Luft und Licht bei Caspar David Friedrich
Zwischen Welten1 Caspar David Friedrichs Großes Gehege Die Welt steht Kopf
Der Sonnenuntergang erleuchtet eine zerklüftete Flusslandschaft. Ein Boot segelt um die kleinen Erdschollen, die aus dem flachen Wasser ragen. Die Spiegelung des Himmels und der Landschaft im ruhigen Wasser verleiht dem gesamten Bild eine leuchtende Qualität.
So beschaulich und idyllisch das Gemälde Das Große Gehege bei Dresden auf den ersten Blick wirkt – es stellt unsere Welt auf den Kopf. Caspar David Friedrich (1774–1840) malte es um 1832, es gilt heute als Gipfel seines späten Schaffens. Der Schlüssel liegt in der Multiperspektivität des Bildes – es gibt nicht den einen Standpunkt: Friedrichs komplexe Bildkomposition verursacht eine Unüberschaubarkeit, eine gewisse Verunsicherung, mit der das Gemälde Betrachter*innen auch nach 200 Jahren bewegt.
Das Große Gehege ist eines der radikalsten Werke Friedrichs und seiner Zeit überhaupt. Vielleicht findet es deshalb heutzutage so großen Zuspruch?
Die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn zum Beispiel sieht darin ein Gemälde, das die Ordnung unserer Welt als Ganzes in Frage stellt. Für Horn ist Das Große Gehege ein Spiegel der Instabilität unserer heutigen Umwelt, die von Menschen immer mehr beeinflusst wird.
Eben dieser folgenschwere Einfluss des Menschen war es, der die Naturwissenschaften Anfang der 2000er dazu veranlasste, ein neues Erdzeitalter auszurufen: Das Anthropozän – die Ära des Menschen. Damit wird die Zeit bezeichnet, in der Menschen nicht mehr nur lokal (im kleinen Rahmen), sondern global Auswirkungen auf die (Um-)Welt haben. Zu diesen Auswirkungen zählen etwa der Klimawandel, das vermehrte Artensterben und die großflächige Veränderung von Landschaften. Den Beginn des Anthropozäns setzt die Forschung um 1800 an, in die Zeit der Industriellen Revolution. Etwa in dieser Zeit entstand auch Das Große Gehege.
Das Anthropozän und die mangelnde Vorstellungskraft des Menschen, den Klimawandel, den eigenen Anteil daran, und die Erde in ihrer Komplexität zu erfassen, sind bei Horn eng verbunden. Diese Gedanken findet sie in Friedrichs Großem Gehege wieder: Nicht länger kann der Künstler, können Betrachtende die Welt mit Sinnen oder Verstand erfassen, sie auf eine Leinwand bannen, voll und ganz verstehen. Und Friedrich ist einer der Ersten, der diese Erkenntnis sichtbar macht.
Was weiß Das Große Gehege Friedrichs vom Anthropozän?
2 Eine Frage der Perspektive Der künstlerische Blick
Johann Georg Klinger, Erdglobus, Nürnberg, 1792, Mathematisch-Physikalischer Salon
Das Große Gehege verblüfft mit seiner großen Weite aus Himmel und der scheinbar gewölbten Wasserlandschaft. Heute, in Zeiten der Luft- und Raumfahrt, erinnert es an den Blick auf die Erde aus dem Weltall. Zu Friedrichs Zeiten konnte man sich diesen Blick noch gar nicht vorstellen.
Damals existierten gerade mal Modelle der Erde als Globus, der aus einzelnen zusammengesetzten Karten bestand. Bewegte Wasseroberflächen und atmosphärische Wolkenwirbel, die wir von Satellitenaufnahmen kennen, waren darauf nicht abgebildet.
Angesichts der neuzeitlichen Einsicht, dass die Erde eine Kugel und Teil eines auf die Sonne ausgerichteten kosmischen Systems ist, entstanden Erdgloben vermehrt seit dem 15. Jahrhundert.
Erste Fotografie der Erde aus dem Weltall, aus der Nähe des Mondes aufgenommen.
NASA/William Anders, Earthrise, 24. Dezember 1968.
1968 sah die Menschheit erstmalig den Erdball in ihrer Gesamtheit. Endgültig wurde klar, dass nicht der Mensch der Mittelpunkt allen Seins ist, sondern nur ein Akteur unter vielen, der mit seinem Handeln Verantwortung trägt für den Lebensraum Erde.
Friedrich konnte die Erde noch nicht von oben aus dem Weltall sehen. Erste Aussichten auf die Umgebung ermöglichten um 1800 (Kirch-)Turmbesteigungen und erste Heißluftballonfahrten.
In einer Zeit vor der Fotografie hinterließen auch teils begehbare Panoramen bleibenden Eindruck. Möglicherweise ließ sich Friedrich von deren spektakulären Perspektiven für Das Große Gehege inspirieren.
Inzwischen wird vermutet, dass Friedrich teilweise technische Hilfsmittel benutzte. Praktische Anleitung gaben ihm zum Beispiel Texte des französischen Kunsttheoretikers Pierre-Henri de Valenciennes. In Élémens de perspective pratique (erschienen 1799/1800, auf Deutsch unter dem Titel Rathgeber für Zeichner und Mahler 1803) empfahl er die Verwendung von Instrumenten wie Fernrohr, Visierrahmen oder Camera Obscura, um Perspektiven besser einfangen oder Farben klarer erkennen zu können.
Carl August Richters Rundpanorama vom Turm der Dresdner Frauenkirche zeigt die Stadt Dresden und ihre Umgebung aus der Vogelperspektive. Im Zoom wird eine Kurve der Elbe westlich der Stadt fokussiert, deren Biegung das Ostragehege umschließt.
Historische Landkarte: Dresden und seine Umgebungen, 1813
3 Friedrichs Blick auf das Große Gehege bei Dresden Die Elbe im Visier
In dieser Gegend westlich von Dresden fertigte Friedrich 1804 einige Zeichnungen an. Sie zeigen neben dem Ostragehege auch Ansichten der Pieschener Allee und der Radebeuler Elbhänge. Aus dem Fundus an Zeichnungen fügte der Maler fast dreißig Jahre später einzelne Motive zu einem neuen Ganzen im Großen Gehege zusammen.
Die von Wiesen und Baumreihen durchzogene Auenlandschaft des Ostrageheges diente schon früh der Versorgung des Dresdner Hofs mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen.
Ende des 17. Jahrhunderts wurde ein Teil des Geländes für die Tierhaltung abgrenzt, daher die Benennung des Areals als »Gehege«.
Die links im Bild gezeigte Lindenallee gibt es auch heute noch. Von den um 1725 gepflanzten Bäumen stehen noch einige wenige, inzwischen sind sie fast 300 Jahre alt.
Dass das Ostragehege heute so anders aussieht als in Friedrichs Großem Gehege ist auch ein Hinweis auf das Anthropozän-Zeitalter: Für eine bessere Schiffbarkeit der Elbe veränderte der Mensch seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehrfach den Flusslauf. Der Fluss wurde vertieft und verschmälert. Damit sollten Niedrigwasser verhindert und Tourismus und Handel vereinfacht werden.
Blick über die Elbe von Pieschen aus gesehen. Flussaufwärts, im Südosten ist Dresden zu erkennen, am gegenüberliegenden, südlichen Flussufer das Ostragehege mit Lindenallee.
Holger Birkholz, Oberkonservator am Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Holger Birkholz über das Ostragehege bei Dresden und Das Große Gehege von Caspar David Friedrich (Transkription)
Wir sind jetzt hier in Pieschen an der Elbe. Im Hintergrund kann man die Stadtsilhouette von Dresden sehen. Wir sind hierhergekommen, weil das ein Ort ist, der ein Stück weit den Eindruck wiedergibt, den Caspar David Friedrich in seinem Gemälde Das große Gehege von 1832 wiedergibt. Dresden selbst sieht man nicht, aber man kann drüben auf der anderen Flussseite das Ostragehege erkennen, das deshalb Gehege heißt, weil es auch für die Tierzucht benutzt wurde und zur Jagd. Und auf der anderen Elbseite sieht man eben sehr deutlich die Linden der sogenannten Pieschener Allee stehen, die Anfang des 18. Jahrhunderts gepflanzt worden ist. Also sind einige Bäume mittlerweile fast 300 Jahre alt.
Als Friedrich hier wandern gegangen ist und einzelne Motive in Zeichnungen festgehalten hat, war diese Allee gerade mal 100 Jahre alt, und deshalb erscheint sie im Gemälde und in der Zeichnung auch sehr viel ebenmäßiger. Das Interessante eigentlich ist, wenn man hier steht, dass sichtbar wird, dass die Landschaft noch sehr viel stärker in die Weite, in die Breite geht. Und das, was für uns heute diesen besonderen Eindruck des Gemäldes hervorruft, diese unbegrenzte Erstreckung in die Landschaft, ist eigentlich eher ein Phänomen einer optischen Verdichtung.
Wichtiger als die Natur des Ortes wiederzugeben, war Friedrich stets der Eindruck beim Künstler – die Empfindung, wie er sagte:
Das zeigt sich auch am Sonnenuntergang im Großen Gehege: In der Realität würde die Sonne weiter westlich bei Radebeul untergehen. Zugunsten einer abendlichen Stimmung veränderte der Maler im Bild Lichtquelle und -einfall.
4 Das Unsichtbare Luft und Licht
Im Großen Gehege bei Dresden nimmt der Himmel mehr als die Hälfte der Bildfläche ein. Im 19. Jahrhundert war der Begriff »Himmel« oder »Licht« weniger gebräuchlich, stattdessen sprach man von »Luft«. So erklärt sich folgende Beschreibung von Friedrichs Kunst:
Friedrichs gemalter Himmel wirkt unendlich leicht – und ist doch Teil einer komplexen Bildgestaltung:
Wie durch einen Zerrspiegel oder Fischauge betrachtet, wirken Wasserebene und Himmel gewölbt. Es herrscht eine Spannung zwischen den Bildteilen, fast als würden sie sich aufeinander zubewegen.
Wo ist der Standpunkt von Künstler und Betrachter*in im Bild?
Unklar ist, von welchem Standpunkt aus wir auf die Landschaft blicken. Statt immersiv in die Landschaft einzutauchen, ist die Perspektive leicht erhöht. So schafft Friedrich eine gewisse Distanz zwischen Betrachter*in und Bild, wir nehmen das Bild als künstliches Bild wahr.
5 Zu neuen Ufern Der Mensch im Großen Gehege
Die Existenz des Menschen auf der Erde macht sich im Großen Gehege bei Dresden erst bei genauerem Hinsehen bemerkbar.
Das kleine Boot auf dem Wasser zeigt einen sogenannten Kaffenkahn. Gut sichtbar ist das vom Wind geblähte Rahsegel. Zu Friedrichs Zeit war der Kaffenkahn ein weit verbreitetes Transportmittel für verschiedene Waren, vor allem für Holz aus der Sächsischen Schweiz, aber auch Gemüse aus Böhmen. In Dresden landeten solche Schiffe direkt bei Friedrich vor der Haustür, Adresse: An der Elbe 33.
Bildvergleich von verschiedenen, ungefähr zeitgleich entstandenen Kunstwerken. Sie illustrieren, wie typisch der Anblick eines sog. Kaffenkahns auf der Elbe zu Friedrichs Zeit offenbar war.
Überregional vernetzte Handelsrouten wie die Elbe begünstigten eine (imperialistisch geprägte) Globalisierung. Ohne sich über die Folgen der Naturausbeutung bewusst zu sein, legten die Menschen um 1800 den Grundstein für das Anthropozän. Mit der einsetzenden Industrialisierung um 1800 stieg auch der CO2-Gehalt weltweit signifikant an. Einige Forscher*innen schlagen daher vor, den Beginn des Anthropozäns an diesem Punkt festzusetzen.
6 Friedrichs Blick ins Anthropozän Zwischen Welten
Kunst vor 1800 bildete die Welt auf eine Weise ab, die sie als eingehegte, also klar umgrenzte Natur wiedergab. Ganz anders in Friedrichs Gemälde Das Große Gehege:
So blickt die heutige Forschung mit dem Wissen um die globalen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf Friedrichs Werk. Friedrichs Zeitgenoss*innen dürften ihre Schwierigkeiten mit dem Gemälde Das Große Gehege gehabt haben – zu ungewohnt war die spannungsvolle Perspektive.
Anders als die Landschaftsmaler*innen seiner Zeit machte Friedrich nicht die Natur selbst, sondern den menschlichen Blick darauf zum Gegenstand seiner Bilder.
Caspar David Friedrichs Bilder zeigen die Natur auf eine Weise, die wir bis heute nur schwer begreifen können. Ähnlich wie die komplexen Zusammenhänge auf der Erde und Wechselwirkungen zwischen vielen verschiedenen Akteuren, die wir nie gänzlich erfassen können.
Das Große Gehege bei Dresden enthält also vielleicht mehr Hinweise auf das neue Zeitalter als Friedrich bewusst war.